Weihnachten in Midgard

oder

das Fest der Liebe

Es war die Jahreszeit, in der die Sonne das erste Drittel der Horizontlinie nicht übersteigt, wo die ersten Rauhnachtsvorboten die Baumkronen schütteln und der eiskalte Regen in die Gesichter der Fußgänger peitscht.

Odin wollte sehen, wie die Menschen in Midgard mit dem anstehenden Julfest umgehen und entschied sich für eine Reise.

Spätabends erschien eine große hagere Gestalt in der Innenstadt. Den Körper in einen langen Mantel gehüllt, das bärtige Gesicht im Schatten einer Hutkrempe verborgen, schritt der oberste der Asen langsam über den festlich geschmückten Weihnachtsmarkt einer größeren Stadt in Midgard. Odin staunte über das rege Treiben und den Lichterglanz. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Gewürzen und Glühwein. Doch da war etwas, das die festliche und warme Stimmung trübte. Es waren die Gesichter der Menschen, die rastlos und gehetzt durch die engen Gassen strömten. Von anderen Menschen keine Notiz nahmen. Da war der Gutgekleidete Herr im teuren Mantel, der genervt hinter einer Mutter mit Kinderwagen herlief, immer nach dem Moment suchend, indem er sie überholen könne. Als er die Möglichkeit dazu erblickte, merkte er nicht einmal, wie er mit dem schweren Aktenkoffer gegen den Kinderwagen stieß.

Da war die alte Frau, die ängstlich mit schweren Taschen beladen, zwischen den hektischen Marktbesuchern hoffte, nicht von ihrem Weg abzukommen. Da waren die kleinen Kinder, die gern einen Blick auf die Auslagen der bunten Buden geworfen hätten, sich jedoch angesichts der vielen Menschen ängstlich an die Hände ihrer Mütter klammerten.

Zehn Minuten! Zehn Minuten mehr Zeit und das Treiben könnte einigermaßen ruhig vonstatten gehen, dachte Odin nachdenklich.

Odin hatte genug gesehen. Er wollte nun den Ort aufsuchen, an dem es noch hektischer war. Der Ort an dem auch die Menschen waren, die auf Weihnachtsmärkten nicht erwünscht sind.

Odin ließ sich von der Menschenmasse in den Eingang des Bahnhofs mitziehen. Hier war die Hektik noch spürbarer als in der Innenstadt. Die Menschen schienen neben der üblichen Eile zusätzlich unterschwellig aggressiv. Hier war kein Platz mehr für die Achtung vor den alten Menschen. Alte und Behinderte waren ein Hindernis, welches es unter allen Umständen hinter sich zu lassen galt. Eine junge Mutter ging mit ihren beiden Kindern zum Bahnsteig. Die Kinder waren noch klein und konnten mit dem Tempo der Masse nicht mithalten.  Das kleinere der beiden Kinder stolperte und fiel auf seine kalten Hände. Beim Versuch ihrem Kind auf die Beine zu helfen und ihm Trost zu spenden, wurde die Mutter mehrfach angerempelt.

Zehn Minuten dachte Odin, würden auch hier das Miteinander menschlicher machen.

Odin näherte sich nun nachdenklich dem Nordausgang des Bahnhofs. Zwischen den durchströmenden Passanten entdeckte er ein Bündel am Rand des Bahnhofs. Odin ging darauf zu und sah dort einen Obdachlosen auf dem Boden sitzen.  Seine Beine und den Körper seines Hundes hatte er notdürftig gegen die Kälte in eine alte Wolldecke eingewickelt. Der Mann verfolgte stumm das Treiben im Bahnhof. Er wirkte ruhig, wie er den Kopf seines Hundes, der sich eng an ihn schmiegte, zärtlich kraulte.

Vor ihm auf dem Boden stand ein kleines Pappschild, auf dem er den Menschen „Frohe Weihnachten“ wünschte. Ein kleines Bild mit einer Mistel zierte den Rand des Schildes.

Daneben stand eine kleine Schachtel aus Pappe, mit einigen Münzen, die ihm Passanten geschenkt hatten.

Hin und wieder blickte der Mann auf, wenn er von den Menschen einen Blick erhielt. Leider waren diese Blicke allzu oft geprägt von Abneigung und Abscheu.

Odin hatte tiefes Mitleid mit dem Mann, zumal er in der Lage war, die Gedanken dieses Menschen aufzunehmen und sah, dass der Obdachlose durch Umstände in diese Situation geriet, die er nicht zu verantworten hatte. Odin spürte eine Unruhe, das Gefühl, es wird etwas passieren. In diesem Moment kam ein junger, augenscheinlich erfolgreicher Mann zielstrebig auf den Obdachlosen zu. Er hatte es sehr eilig und telefonierte laut mit einem Geschäftspartner. Er nahm keine Notiz von dem am Boden sitzenden Mann und trat mit seinen glänzenden Schuhen die kleine Pappschachtel mit den wenigen Münzen zwischen die Füße der Passanten. Der Obdachlose sprang sofort auf und versuchte seine Münzen und die Schachtel zurück zu erhalten. Bei dem Versuch, die Münzen aufzuheben, wurde er unzählige Male angerempelt, getreten und mit Beschimpfungen übersäht. Eine alte Frau und eine junge Mutter lösten sich aus der Masse der Passanten und sammelten gemeinsam mit ihm alle Münzen ein.

Der Geschäftsmann hatte sich nicht einmal nach dem Mann umgesehen. Lediglich für einen prüfenden Blick auf den besagten Schuh fand er Zeit.

Mit Hilfe der beiden Frauen konnte der Obdachlose alle Münzen finden. Er bedankte sich sehr für die Hilfe und setzte sich wieder zu seinem Hund.

Die Alte Dame blickte ihm lange in die Augen, holte ihre Geldbörse aus der Tasche und schenkte den Mann eine Banknote. Er war sprachlos und konnte keine Worte dafür finden. Die Dame streichelte ihm sacht über sein Gesicht und wünschte ihm…

„Frohe Weihnachten“

Langsam verlor sich die Gestalt der Dame in der Menschenmenge. Odin dachte noch eine Weile darüber nach, dass es so leicht ist, mit Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft große Geschenke zu machen. Bevor er wieder zurück nach Asgard ging, blickte er noch einmal in die feuchten Augen des Obdachlosen, der wieder den Kopf seines Hundes streichelte und dachte bei sich:“ Zehn Minuten! Es hat genau zehn Minuten gedauert.“

G.Schmidt

 

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