Der Merseburger Rabe
Merseburg gehört zu jenen interessanten Städten, die viel aus den alten Zeiten zu erzählen wissen. Die Straßen plaudern von ihren ehemaligen Bewohnern und deren Beschäftigungen. Man braucht sich nur die Straßennamen anzusehen. Die Gebäude selber erzählen vom Wohlstand, dem Geschmack und der Eigenarten ihrewr Erbauer. Auch die wappen sprechen ihre eigene Sprache.
Unter den Wappen sieht man häufig den Raben des Bischofs „Thilo von Trotha“. Im monumentalen Käfig auf dem Schlosshofe hüpft er selbst, der schwarze Gesell und sucht sich gern den Blicken der Besucher zu entziehen, als ob er mit sich eine schwere Schuld zu verbergen suche. Auch um ihn hat die Sage ihren Schleier gewoben. Das dunkel seines Gefieders gab den Grundton zu einem Drama, in dem die diebische Natur des Raben zum Verhängnis für einen treuen Diener wurde.
Den Fuchs auf dem Wappenhelm lies die Phantasie zum Sinnbild des listigen Jägers werden, der seinem Feind Fallstricke zu stellen wusste, während man in den emporgehobenen Händen den Ausdruck beteuerter Unschuld sah. So entstand die Sage vom Merseburger Raben.
Um das Jahr 1500 saß Thilo von Trotha auf dem bischöflichen Stuhle zu Merseburg. Ein jähzorniger und übereilter, ja oft auch harter Prälat. Er hielt sich einen Hausraben, der hoch in seiner Gunst stand und dessen Pflege dem Jäger Ulrich anvertraut war. Plötzlich verschwand ein wertvolles Kleinod aus dem Schlafzimmer des Bischofs, ein Ring mit köstlichem Edelsteine, welchen ihm sein Freund, Herr Gerhard, Bischof zu Meißen geschenkt hatte. Außer dem Bischofe hatte das Gemach nur dessen Kammerdiener betreten, den seine Treue gegen allen Verdacht, dass er seines Herrn kostbaren Ring entwendet habe, zunächst schützte. Allein das Vertrauen, das der Bischof seinem treuen Johannes entgegenbrachte, hatte diesem schon längst unter dem übrigen Hofgesinde Feinde und Neider erweckt. Unter ihnen war es besonders der Jäger Ulrich, der Johannes zu verdächtigen suchte. Als ihm dieses nicht gelang, griff er zu einer List. Dem gelehrigen Raben prägte er die Worte ein:“ Thilo! Thilo! Hans-Dieb! Hans-Dieb!“ Als der Bischof vom Raben diese Worte hörte, sah er sie als Gottesurteil an und befahl, den treuen Diener zu enthaupten. Auf dem Schafott soll der Unglückliche erklärt haben, dass er zum Zeichen seiner Unschuld, sobald der Kopf gefallen sei, die Hände über dem Rumpf zum Himmel erheben werde, was dann auch geschehen sei.
Bald darauf wehte ein Sturm das Nest jenes Raben von einem Turme der Bischofspfalz herab, und ein köstliches Kleinod blinkte aus demselben dem Prälaten entgegen: Es war sein Ring, um dessentwillen er unschuldig Blut vergossen hatte. Er empfand tiefe Reue über seinen Jähzorn, legte den alten Schild seines Geschlechtes ab und setzte für ewige Zeiten den Raben mit dem Ringe in sein Wappen. Auch sicherte er durch eine Stiftung den unterhalt eines Raben, der von dem Torwärter des Schlosses bis auf den heutigen Tage gepflegt wird.
Interessant an dieser Sage ist, dass selbst Stadtchronisten keine Hinweise auf den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte finden konnten. Den Raben allerdings, den gibt es wirklich in Merseburg. Er fristet dort ein einsames Dasein und büßt für etwas, was es vermutlich niemals gab.