Thomas Bugnyar von der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau
im Almtal beschäftigt sich mit sozialem Wissen bei Kolkraben. Kolkraben
sind die größten einheimischen Rabenvögel und haben - wie die meisten
Rabenvögel - einen hervorragenden Ruf, was Intelligenz und Lernfähigkeit
angeht. Sie ernähren sich vorwiegend von Fleisch, wobei sie eine
ausgeprägte Vorliebe für Aas zeigen. Um Nahrung aufzuspüren, rekrutieren
sie Artgenossen durch Futterrufe oder indem sie sie von deren
Schlafplatz abholen. Haben die Vögel jedoch etwas gefunden, verwandelt
sich die ursprüngliche Kooperation rasch in Konkurrenz. Zusätzlich kommt
es oft zu Auseinandersetzungen mit anderen, gefährlichen Tieren wie zum
Beispiel Wölfen. Bei solchen Interaktionen ist es von Vorteil, nicht
nur das Verhalten anderer beurteilen, sondern auch bis zu einem gewissen
Grad ihren Wissensstand einschätzen zu können. Dazu gehört
beispielsweise schon die Fähigkeit, der Blickrichtung eines anderen zu
folgen. Für soziale Säuger wie Menschenaffen, Hunde, Delfine und Ziegen
wurde diese erst in den vergangenen Jahren nachgewiesen, über das
Blickfolgen bei Vögeln gab es jedoch bisher kaum Arbeiten.
Wie Bugnyar und seine Kollegen im Rahmen eines vom
Wissenschaftsfonds geförderten Projektes als weltweit Erste zeigen
konnten, sind Kolkraben nicht nur imstande, dem Blick eines menschlichen
Experimentators zu folgen. Die Forscher führten an ihnen einen Test
durch, der bislang nur bei Schimpansen zum Einsatz kam: Dabei bewegt der
menschliche Experimentator seinen Kopf in Richtung eines Punktes, der
für das Versuchstier hinter einer Barriere verborgen ist. Ändert das
Tier daraufhin seine Position so, dass es hinter die Barriere sehen
kann, geht man davon aus, dass es den Blick des Experimentators in
seinem eigenen Kopf verlängert hat.
Für jugendliche Kolkraben stellte diese Aufgabe kein Problem
dar, wohl aber für junge, die zwar dem Blick des Menschen mit den Augen
folgen, dann aber an der Barriere "hängen" bleiben. Auch beim Menschen
braucht diese Fähigkeit Zeit zur Entwicklung: Menschliche Kinder blicken
ab einem Alter von etwa 18 Monaten hinter die Barriere.
Ein Verhalten, das bei Kolkraben eine wesentliche Rolle spielt,
ist das Verstecken von Nahrung. Alles, was sie nicht sofort fressen
können oder was sonst von einem ranghöheren Artgenossen beansprucht
werden könnte, wird versteckt. Bugnyar und seine Kollegen richteten eine
Versuchsanordnung ein, die genauer untersuchen sollte, welche
Lernvorgänge beim Verstecken ablaufen. Innerhalb kürzester Zeit jedoch
entwickelte das Experiment eine erstaunliche Eigendynamik mit
spektakulären Ergebnissen. Untersuchungsobjekte waren vier
handaufgezogene Raben: zwei Männchen - Hugin und Munin (benannt nach
Odins Raben) - und zwei Weibchen. Die Aufgabe dieser vier war es,
Käsestücke, die die Forscher im Versuchsraum versteckt hatten, zu
finden. Die Belohnung befand sich immer in Ansammlungen von farblich
markierten Behältern; zusätzlich gab es auch Ansammlungen von Behältern
ohne Käse. Praktisch von Anfang an entwickelte sich zwischen den beiden
Männchen ein Muster: Der dominante Munin machte keine Anstalten, das
Futter zu suchen. Das überließ er dem rangniedrigen Hugin - allerdings
nur, um ihn dann sofort von der Futterquelle zu verdrängen und den Käse
selbst zu fressen.
An Tagen, an denen Hugin sehr viele Belohnungen an seinen
dominanten Bruder verlor, fing er an, auch Boxen ohne Käse zu öffnen. In
vielen Fällen folgte ihm Munin dorthin, und während er die Nieten
untersuchte, flog Hugin rasch zu den gefüllten Behältern zurück und
nutzte die Gelegenheit, für ein paar Sekunden ungestört zu fressen. Im
Laufe der Zeit lernte Munin jedoch, nicht mehr auf Hugin hereinzufallen,
obwohl dieser seine Aufenthalte an den Boxen ohne Nahrung im selben Zug
verlängerte.
Es handelt sich dabei um den ersten Nachweis für taktische
Täuschungsmanöver bei Vögeln. Jane Goodall beschrieb 1986 ein ähnliches
Verhalten für wilde Schimpansen, und vergleichbare Befunde gibt es für
Mangaben und Hausschweine. Halbaffen (Kattas) hingegen zeigten bei
ähnlichen Versuchen keinerlei Ansätze in Richtung Täuschung.
Raben haben ein ausgezeichnetes räumliches Gedächtnis, das
ihnen erlaubt, sich haargenau daran zu erinnern, wo ein anderer Futter
versteckt hat, sofern sie ihm dabei zusehen konnten. Rangniedrige Tiere,
die bei Nahrungsquellen nicht zum Zug kommen, verfolgen oft ranghöhere,
beobachten sie beim Verstecken und räumen dann deren Verstecke aus.
Dementsprechend reagieren Vögel, die Nahrung verstecken, äußerst
aufmerksam auf mögliche Beobachter: Oft verzögern sie das Verstecken
oder verstecken nur sehr wenig Nahrung.
Wie Bugnyar in einem früheren FWF-Projekt zeigen konnte, nehmen
erwachsene Raben dabei sogar Sichtbarrieren in Anspruch beziehungsweise
nutzen tote Winkel im Blickfeld von Beobachtern, das heißt, sie
verstecken sich beim Verstecken. Bei weiteren Experimenten stellte sich
heraus, dass Kolkraben zwischen Konkurrenten unterscheiden, die den
Versteckvorgang beobachtet haben, und solchen, die keine Gelegenheit
dazu hatten: Wenn ein anderer Rabe das Verstecken beobachten konnte,
räumen sie ihr Versteck sofort selbst aus, wohingegen sie bei
Individuen, die beim Verstecken zwar anwesend, aber durch eine Barriere
an der Sicht gehindert waren, erst abwarten, ob diese Anstalten machen,
das Versteck zu plündern.
Bei einer anderen Variante gibt es zwei potenzielle Plünderer:
Hat der rangniedrigere davon das Verstecken beobachtet und der
ranghöhere nicht, hält sich der Beobachter so lange mit dem Plündern
zurück, bis der unwissende, aber stärkere Konkurrent die Umgebung des
Verstecks verlassen hat. Konnten hingegen beide das Verstecken
beobachten, liegt die einzige Chance des rangniederen Vogels darin,
schneller zu sein - und tatsächlich startet er in diesem Fall sofort
los.
Solche Verhaltensweisen legen nahe, dass Raben Einsicht in die
Gedankenwelt anderer haben, und das wieder bedeutet zumindest Ansätze
einer "Theory of Mind", wie sie bislang dem Menschen vorbehalten schien.
In jedem Fall ist der Homo sapiens auf dem Feld der sozialen
Intelligenz bei Weitem nicht so allein, wie manche seiner Vertreter es
vielleicht gerne hätten. (Susanne Strnadl/DER STANDARD, Print-Ausgabe,
14./15. 1. 2006)