Der mürrische alte Mann

Es war wieder die Zeit vor Jul. In diesen Tagen begab sich der graue Wanderer jedes Jahr gerne nach Midgard um von den Menschen zu lernen.

Auch in diesem Jahr wollte Odin den Geist der Weihnacht spüren. „Geist der Weihnacht“..Was ist das? Ist es nur eine Floskel? Ist es ein Vorwand, um wenigstens einmal im Jahr an die Menschen zu denken, die einem lieb und teuer sein sollten?

Odin wusste darauf keine Antwort, aber das war doch das Ziel, die Antwort darauf wollte er hier bei den Menschen finden.

Weihnachten, dass Fest der Liebe, das Fest der Besinnung…War das so? Odin blickte sich um, hier gab es wirklich viel, dass man tun konnte, wenn man wollte. Liebe? Was heißt Liebe? Sollte es nicht heißen, das Fest der Nächstenliebe?
Es gab viele Hände, die nach Nächstenliebe flehte, viele Blicke, die auf Zuwendung warteten und es gab viele Menschen, die voller Hektik diese leisen Töne nicht hörten, oder nicht hören wollten.

Odin spürte die Hektik, er spürte die Ignoranz und er fühlte die Verzweiflung der Verlierer dieser Gesellschaft. Ein Gefühl jedoch war im bisher nicht begegnet und dieses Gefühl kam langsam und schleppend auf den Bahnsteig zu, an den er wartete, es war der  “Hass“.

Ein alter Mann, der einbeinig auf einer Holzkrücke gestützt sein armseliges Bündel hinter sich herzog strahlte dieses Gefühl unmissverständlich aus. Odin war fasziniert von diesem Mann, der trotz seiner Armut diesen unglaublichen Stolz verkörperte. Seine Augen waren es, die vorwurfsvoll in die Vergangenheit blickten und zornig einen Schuldigen verfolgten.

Der Zug fuhr ein und der alte Mann humpelte auf den Einstieg zu. Er strauchelte, fiel hin und sein Bündel entglitt ihm. Passanten wollten ihm helfen, doch der Alte war zu stolz. Er kämpfte sich mühsam hoch, griff sein Bündel und suchte sich einen Platz im Zug.

Die Menschen wollten nicht neben ihm sitzen. Oberflächlich sahen sie sich die schmutzigen und schwieligen Hände an, seine verschmutzte Kleidung, dass ungewaschene Haar unter der dreckigen Mütze. Nein, mit so jemandem wollte man die Bank nicht teilen.

Odin beobachtete den Alten, der mit versteinerten Zügen auf einen Punkt  starrte, der in seinen  ineinandergelegten Händen sein musste. Als bereits viele Menschen ausgestiegen waren und Odin und der Alte die letzten Fahrgäste im Zug waren, brach es aus dem Alten hervor und er weinte bitterlich. In seiner schwieligen Hand hielt er ein unglaublich altes aber in sauberes Leinen gehülltes Foto einer Frau….seiner Frau…

Oh ja, er vermisste sie sehr…..

 

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