Der Riese Ymir

Der Riese Ymir

Papa hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt, hielt das schöne Buch in den Händen und begann zu erzählen wie alles begann.

>>Am Anfang lebten noch keine Menschen auf der Welt, es gab im Norden Niflheim die Welt der unbarmherzigen Kälte und des ewigen Eises. Im Süden lag Muspelheim, dort gab es nichts als Flammen es war dort so heiß, das nichts gedeihen konnte ohne sofort zu verbrennen. Zwischen diesen beiden Orten jedoch befand sich ein unendlich tiefer Abgrund er war so tief und breit, dass sich Feuer und Eis eigentlich nie hätten berühren können. <<

>>Aber dann konnte dort doch niemand leben! << fragte Hannah besorgt.

>>Das ist richtig, aber eines Tages entsprang in Niflheim ein eiskalter Fluss unter hohem Druck und bahnte sich seinen Weg in Richtung Abgrund. Wegen der großen Kälte gefror das Wasser auf dem Weg dorthin und große Eisplatten bewegten sich langsam auf den Abgrund und Muspelheim zu. Am Rand des großen Abgrundes bildeten sich nun lange Eiszapfen, die wiederum wegen der Hitze Muspelheims tauten und ein Strom kalten Wassers ergoss sich in die siedendheiße Schlucht. Als nun das Wasser auf das Feuer traf, entstand Leben in der Tiefe des Abgrundes und der Riese Ymir war geboren. <<

>>Wo war denn Odin damals? <<

>>Odin war noch nicht geboren, zu diesem Zeitpunkt waren nicht einmal Odins Eltern geboren. Es erhob sich nun der Riese Ymir aus der Schlucht und dabei füllte er mit seinen riesigen Händen, dem Geröll, dem Eis und der Lava ganz allmählich den Abgrund. Ymir bekam Hunger, aber was sollte er denn essen? So suchte er seine Umgebung nach Nahrung ab und plötzlich entdeckte er eine Kuh. <<

>>Die hat er bestimmt gegessen, oder? <<

>>Nein, Ymir war zwar nicht schlau, aber er wusste genau, dass es mit dieser Kuh etwas Besonderes auf sich hatte und er sie um keinen Preis verlieren durfte. Der Name der Kuh war Audhumla und sie war das zweite Wesen das in der Schlucht geboren wurde. Ymir merkte recht schnell, das Audhumlas Milch niemals endete und so molk er sie wann immer er Hunger verspürte. <<

>>Aber was hat die Kuh denn gegessen? <<Hannah machte ein besorgtes Gesicht.

>>Ja, das war wirklich ein Problem. Gras gab es noch nicht und Heu natürlich auch nicht. Weißt du noch, dass Hans-Hermann solche merkwürdigen Lecksteine für die Kühe aufgestellt hat? <<

>>Ja, und die Kühe haben da ganz oft dran geleckt! <<

>>Genau und Audhumla hat das auch gemacht, nur an einem richtigen Stein. Der war wohl auch ein wenig salzig und enthielt bestimmt auch Mineralien. Doch auf einmal erschienen unter der Eisschicht die Audumla ableckte einige Haarbüschel, später ein Gesicht und schließlich ein ganzer Mann. Audumla hatte drei Tage gebraucht aber dann war er geboren, der Stammvater der Götter, sein Name war Bühre. Nun lebten also drei Wesenheiten auf der Welt. Der Riese, der Gott und das Tier. Ymir war ein ganz besonderes Wesen, er war halb Mann und halb Frau. Er war sehr faul und er schlief sehr viel. Eines Tages als Ymir wieder einmal schlief, da kamen in seinen Achselhöhlen ein Mann und eine Frau zur Welt und als das Ymirs Füße sahen, da wurden sie eifersüchtig und brachten ebenfalls ein Wesen zur Welt, es war ein Mann und hatte sechs Köpfe. Somit entstand der erste der Trolle. <<

>>Aber so etwas geht doch gar nicht, Füße können doch keine Babys haben << Hannah amüsierte sich köstlich über diese Vorstellung.

>>Unsere Füße sicher nicht, aber Ymir war ja auch nicht irgendein Riese. Er war der größte Riese der jemals auf der Erde gelebt hat, aber davon erfährst du später noch mehr. Nun da es bereits einige Wesen auf der Welt gab, bekamen diese wiederum Kinder und deren Kinder ebenfalls Kinder. So bekam auch Bühre, der Stammvater der Götter einen Sohn, sein Name war Börr. Dieser heiratete eine Riesin, ihr Name war Bestla. Die beiden hatten drei Söhne Vili, Vè und Odin. <<

>>Ja, jetzt kommt Odin! << Hannah sprang auf und strahlte ihren Vater an. Papa sah sie leicht verwirrt und einigermaßen erstaunt an. Mit so einem Gefühlsausbruch hatte er nicht gerechnet.

>>Erzähl bitte schnell weiter ja? << Papa lachte und fuhr dann fort,

>>Eines Tages als Odin mit seinen Brüdern umherzog, störte sie die Trostlosigkeit der Landschaft, es gab nur Feuer und Eis, Feuerriesen und Eisriesen und über allem lärmend und tobend der Urriese Ymir. Odin und seine Brüder wollten etwas erschaffen, aber sie hatten Angst, dass die Riesen alles sofort wieder zerstören würden. So beschlossen sie den Riesen Ymir zu töten. <<

>>Aber warum denn, der Riese hat ihnen doch nichts getan? << Hannah war offenbar empört über Odins Handlungsweise und soviel war sicher, Odin war ihr eine Antwort schuldig.

>>Weißt du, die Götter hatten einfach Angst vor Ymir. Er wurde immer größer und stärker und er brauchte immer mehr Platz. Als Odin und seine Brüder den Riesen getötet hatten, da blutete dieser so stark, dass alle anderen Riesen in diesen Fluten ertranken. Aus den Fluten bildeten sich die Flüsse und die Meere. Odin und seine Brüder überlegten, was sie mit dem toten Riesen machen könnten. Sie schleppten ihn zum Abgrund der Muspelheim von Niflheim trennte und schufen die Welt. Aus seinem Fleisch wurde der Erdboden seinen Schädel hoben sie über die Erde stellten unter den Schädel vier Zwerge mit den Namen Vestri, Sudri, Austri und Nordri und erschufen damit den Himmel. Die Zwerge kennen wir heute immer noch, sie heißen Norden, Osten, Westen und Süden und sie stehen immer noch da wo Odin ihnen befohlen hat zu stehen. In den Himmel hinein warfen sie Funken aus Muspelheims Feuer, man kann diese Funken heute noch bei Nacht als Sterne leuchten sehen. Die Götter hoben die Erde ein wenig weiter aus den Fluten und schon grünte es. Das Meer lag wie ein Ring um die Erde. Aus Ymirs Knochen schufen die Götter die Berge, aus seinen Zähnen und Knochensplittern die Steine und Felsen. Aus Ymirs Haaren wurden Bäume und nichts blieb übrig oder wurde nicht verwendet. Die wichtige mittlere Welt die später von den Menschen bewohnt wurde und Midgard heißt, bekam einen Schutzwall der aus Ymirs Wimpern bestand. Außerhalb dieses Schutzwalles befand sich Utgard die äußere Welt. Diese Welt war für Götter und Menschen unbewohnbar, nur Riesen konnten in den eisigen Gebirgen, den baumlosen Steppen, gierigen Mooren oder dem Eisenwald leben. <<

>>Aber die Riesen sind doch alle ertrunken? <<

>>Ja, als Odin und seine Brüder Ymir töteten dachten sie, alle Riesen wären ertrunken, aber Berglmir der schlaue Riese entkam den Fluten mit seiner Frau und seinem Gefolge. Er siedelte sich erneut an und aus diesem Zweig der Riesen entstand ein neues Riesengeschlecht. <<

>>Sind denn die Menschen auch aus Ymir gemacht worden? <<

>>Nein, die Menschen entstanden, als Odin mit seinen beiden Brüdern spazieren ging. Vè blickte auf ein Stück Holz, dass am Strand angeschwemmt wurde und als er seinen Blick noch ein wenig schweifen ließ, erblickte er ein weiteres Stück Holz mit Stöcken daran die wie Arme und Beine aussahen. Vè fand, dass eine gewisse Ähnlichkeit zu den Göttern bestand und damit war eine Idee geboren. Nun wollten die Götter Wesen nach ihrem eigenen Ebenbild erschaffen. Sie stellten die beiden Hölzer am Strand auf und nannten sie Ask und Embla was bei uns Esche und Ulme bedeuten würde. Odin gab ihnen Leben und sie konnten atmen. Vili gab ihnen die Vernunft und den Verstand ,so dass sie denken und verstehen konnten. Schließlich gab ihnen Vè ihre Sinne und das Aussehen ,so dass sie sich bewegen und empfinden konnten.

Nach und nach bevölkerten die Menschen Midgard. Als Midgard für die Menschen sicher war, kümmerten sich die Götter um Asgard, ihre eigene Welt. Asgard wurde hoch auf einem Berg erbaut und war nur über eine Brücke aus lodernden Flammen erreichbar, ihr Name war Bifröst was Regenbogenbrücke bedeutet. Die Riesen hatten Angst vor dem lodernden Rot der Brücke und trotzdem war jeder von dem Anblick ergriffen wenn Bifröst bei Regen in den bekannten Regenbogenfarben erstrahlte. Eines Tages so wussten die Götter, würden die Riesen Asgard und Midgard angreifen und es würde zu einer großen Schlacht kommen. Da Asgard nur über Bifröst erreichbar ist, würde sie unter der Last der Riesen zerbrechen und Asgard würde zunächst einmal relativ sicher sein. <<

>>Aber was ist denn mit den Menschen, wenn die Riesen kommen? <<

>>Nun die Menschen genießen den Schutz der Götter. Oben vor den Toren Asgards am Ende von Bifröst steht der Wächter Heimdall. Er ist ebenfalls ein Ase und wacht über alles. Nichts entzieht sich seinem scharfen Auge. Er kann Dinge sehen, die mehrere Tage entfernt sind und sein Gehör ist so scharf, dass er die Wolle auf den Schafen wachsen hört. <<

>>Aber was ist denn, wenn Heimdall schlafen muss, dann können die Riesen doch die Menschen überfallen? <<

>>Wenn Heimdall schläft dann reicht es ihm, seine Augen kurz zu schließen und schon ist er wieder ausgeruht. Heimdall benötigt weniger Schlaf als ein Vogel. Wenn Heimdall oben auf der Brücke steht, ist er schon von weitem zu sehen. Seine Zähne sind aus reinem Gold und auch sein Schwert glänzt hell wie die Sonne. <<

>>Und weil du etwas mehr Schlaf als ein Vogel benötigst und ich mich auf die Fortsetzung unserer Reise vorbereiten muss, finde ich, dass wir für heute Schluss machen. <<

Hannah saß mit offenem Mund und vor Müdigkeit ganz kleinen Augen da und konnte nicht glauben, dass die Reise mit Papa schon vorbei war.

>>Aber Papa, ich muss doch unbedingt noch wissen wo Odin in Asgard wohnt und wie sein Haus aussieht und wo Heimdall wohnt! <<

>>Wenn Du heut Abend einschläfst, dann versuche dir doch einmal vorzustellen wie Odin, der ja ein Gott ist, wohl lebt. <<

>>Tja, wenn er in Midgard ist und nicht erkannt werden will, dann schläft er vielleicht in einem Zelt und wenn er in Asgard ist…. <<

Papa stand auf und legte den Arm um Hannahs Schultern vermutlich um sich auf keine zeitschindende Diskussion mit seiner Tochter einzulassen und sagte:

>>So Hannah, sag deiner Mama gute Nacht und dann wollen wir uns morgen auf den zweiten Teil unserer Reise begeben. <<

Hannah wusste, dass sie keine andere Wahl als ihr Kinderzimmer hatte. Sie sagte ihrer Mama und ihrem Papa gute Nacht und ging ins Bett. An diesem Abend war sie besonders müde sie nahm ihren Teddy in den Arm und gerade als sie darüber nachdenken wollte, wo Odin wohl wohnen würde, war sie auch schon eingeschlafen. So konnte sie auch nicht mehr sehen, dass Hugin auf dem Ast des Apfelbaumes saß und sie nachdenklich aber zufrieden beobachtete. Schließlich erhob er sich in den Abendhimmel und flog zurück zu seinem Herrn um ihm zu berichten. Aber war dies überhaupt nötig, denn es schien als schaute aus den Wolken das Auge Odins direkt in Hannahs Kinderzimmer.

Der folgende Morgen war strahlend klar. Die Vögel sangen an diesem Morgen besonders schön und Hannah fühlte sich einfach nur glücklich. Mama sagte immer das müsse mit den Farben im Moor zusammenhängen, dass man sich an einigen Tagen niedergeschlagen und an anderen Tagen fühlt, als würde man jeden Moment vor Glück platzen. Hannah zog ihren Bademantel an und lief die Treppe hinunter. Mama hatte in der Diele den Frühstückstisch gedeckt und das Licht fiel in Bündeln durch die Fenster. Der Anblick war wunderschön. Selbstverständlich wäre der Anblick eines kleinen schwanzwedelnden Hundes auch nicht zu verachten gewesen, aber Hannah hatte inzwischen gelernt zu warten. Sie war wohl nicht die einzige, die sich an diesem Morgen besonders wohl fühlte. Hannahs Mama stand in der Küche und sang laut zur Musik aus dem Radio. Hannah musste sich das Lachen verkneifen aber als sie in das überraschte Gesicht ihrer Mutter blickte, mussten beide herzhaft lachen. Es war wirklich ein wunderschöner Morgen wenn da nicht die Tageszeitung gewesen wäre. Hannah frühstückte wie jeden morgen mit ihrer Mutter und Mama las wie jeden morgen nach dem Frühstück die Zeitung. Hannah tat dann immer als würde sie lesen können und schaute sich die Bilder an. Ein Teil der Zeitung gefiel Hannah ganz besonders gut. Es war der Teil der sich mit dem Landkreis, ihrer unmittelbaren Umgebung, befasste. In diesem Teil gab es immer schöne Bilder von Tieren. Hannah freute sich schon auf die Bilder. Aber was sie heute auf der ersten Seite sah, ließ ihr den Atem stocken. Sie sah ein Foto auf dem in einer Reihe fünf Pfähle aufgestellt waren. Die Pfähle waren ungefähr drei oder vier Meter hoch und auf der Oberseite war jeweils eine Latte quer aufgenagelt. Insgesamt hatten diese Gebilde Ähnlichkeit mit Galgen. Das war allerdings auch beabsichtigt, denn was Hannah den Atem stocken ließ, war die Tatsache, dass an den Außenseiten der Querhölzer jeweils ein toter Rabe hing. Hannah nahm die Zeitung auf, hielt sie ihrer Mutter entgegen und fragte mit tränenerstickter Stimme

>>Warum? << Mama sah auf das Bild und war ebenso fassungslos wie Hannah. In diesem Moment wusste sie nicht was sie ihrer Tochter antworten sollte. Wie sollte man diesen Irrsinn auch einem Kind erklären, wenn selbst Erwachsenen beim Anblick derartiger Unmenschlichkeiten die Worte fehlen. Immer wieder versuchte Mama eine Erklärung dafür zu finden und immer wieder versagte ihr beim Anblick der verzweifelten Kinderaugen die Stimme. Hannah stammelt irgendetwas Unverständliches und ihre kleinen Hände verkrampften sich in der Zeitung, schließlich stand sie auf und lief weinend in den Garten. Mama hielt es für das beste, sie erst einmal allein zu lassen. Sie hatte auch keine Idee wie sie Hannah trösten sollte. Vielleicht war sie aber auch selbst zu sehr geschockt bei dem Anblick der zehn getöteten Raben die von einem Landwirt offenbar als Abschreckung für andere Rabenvögel aufgehängt und an diesen Galgen befestigt wurden.

Hannah saß am Fuß der Eiche und konnte Ihren Blick nicht von der Zeitung lösen. Sie konnte nicht verstehen warum Menschen so etwas machen. In ihrem ganzen Leben hatte Hannah noch nie solch grausame Dinge gesehen. Sie fasste den Entschluss Odin davon zu berichten. Hannah wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und lief so schnell sie konnte zur Lichtung. Odin hatte zwar gesagt, dass sie niemals allein kommen sollte, aber dies war ein Notfall. Hannah stürzte auf die Lichtung und rief weinend,

>>Odin schau!! << sie blickte sich um aber auf der Lichtung war niemand, kein Hugin, kein Munin und vor allen Dingen kein Odin. Hannah weinte nun noch mehr, denn sie glaubte Odin wäre wieder zurück nach Asgard gegangen oder er wäre böse weil Hannah ohne seine Zustimmung auf die Lichtung gekommen ist. Die Zeitung fest an ihre Brust gedrückt und weinend setzte sie sich auf den Baumstamm auf dem Odin sonst saß. Hannah spürte einen warmen Wind in Ihrem Rücken und als sie sich umdrehte sah sie Odin im Schatten einer alten Kiefer dastehen. Odin spürte, dass nun der Moment gekommen ist, vor dem er sich insgeheim fürchtete. Er musste dem kleinen Mädchen etwas erklären, wofür es keine Erklärung gab. Hannah wollte Odin soviel fragen aber sie musste so sehr weinen, dass sie keine Worte herausbrachte und nur schluchzen und wimmern konnte. Odin nahm Hannah in die Arme und vorsichtig die Zeitung aus ihren Händen. Odin blickte schweigend auf die Fotos und es lag etwas Bedrohliches in der Luft. Hugin wurde unruhig und Munin der bis eben seine Bahnen am Himmel zog, suchte sich einen sicheren Platz in einer hohen Fichte. Odin stand auf der Lichtung und hob die Arme gegen den Himmel. Der Himmel verdunkelte sich und ein immer stärker werdender Wind kam auf. Hannah bekam Angst als Odin dastand und diese merkwürdigen Worte sprach, die sie nicht verstehen konnte. Die Worte waren so stark dass ihr abwechselnd warm und dann wieder sehr kalt wurde. Der Klang schien den ganzen Wald mit einer unsichtbaren Energie zu erfüllen und dann wurde es ruhig. Odin lies seine Arme sinken und wirkte erschöpft. Schließlich nahm er die Zeitung auf um sie vorsichtig auf einen Baumstumpf zu legen. Odin schnitt anschließend einen kleinen Stock aus einem Strauch und ritzte mit einem Messer merkwürdige Zeichen in den Stab. Odin setzte sich vor den Baumstumpf und sang in einer monotonen und sehr fremd wirkenden Sprache. Schließlich legte er den Stab auf die Zeitung und irgendwie schien es als sei mit dieser Geste die Ruhe und Friedlichkeit auf die Lichtung zurückgekehrt. Hannah hatte, seitdem sie die Fotos das erste Mal sah, ein Gefühl als würde ihr etwas Dunkles die Luft zum atmen rauben.

>>Odin was ist mit den Raben passiert? << fragte Hannah.

>>Etwas sehr schreckliches Hannah, sie mussten für etwas sterben, was in ihrer Natur liegt. Sie haben nichts weiter getan, als nach Nahrung zu suchen. Dabei haben Sie allerdings eine Plastikfolie zerstört. Diese Folie benötigen Landwirte um das Futter für die Kühe abzudecken damit es nicht nass wird und schimmelt. <<

>>Aber das können doch die Raben nicht wissen! <<

>>Nein das können sie nicht und deswegen werden sie immer wieder, solange es Raben gibt, diese Folien beschädigen um an Nahrung zu gelangen. <<

>>Und warum hat der Landwirt die toten Raben an die Stangen gehängt? <<

>>Er glaubt, dass wird die anderen Raben abschrecken. Er hofft, sie werden dann nicht wieder kommen. <<

>>Warum hängt er dann nicht einfach Stofftiere an die Stangen die wie Raben aussehen? Dann kommen doch auch keine Raben mehr oder warum nimmt er nicht eine stärkere Folie? <<

>>Raben sind sehr schlaue Vögel die sich weder durch Stofftiere noch von toten Artgenossen von ihrer Nahrungssuche abhalten lassen. Deine Idee mit der stärkeren Folie ist sehr gut und mittlerweile ist es auch möglich diese Futterlager vor Raben zu sichern. Aber diesem Landwirt geht es um Rache und um nichts anderes. Er ist ein bemitleidenswerter Mensch, er glaubt ein Rabe würde denken wie er und Gefühle wie Zorn oder Ärger besitzen. Das Gegenteil ist der Fall, die Vögel fühlen keinen Zorn, aber ganz bestimmt so etwas wie Trauer für Ihre toten Freunde. Menschen die solche Dinge tun liebe Hannah, sind roh und gefühllos. Diese Menschen können keine Liebe empfinden. Denn sie wären ansonsten nicht in der Lage so etwas zu tun. Es sind diese Menschen, die niemand vermissen wird, wenn sie eines Tages nicht mehr da sind. <<

Hannah wirkte nach diesen Worten sehr nachdenklich und hilflos. Nach Odins Erklärungen war sie zwar nicht mehr ganz so traurig, aber eine Frage lies ihr keine Ruhe.

>>Was hast du da vorhin mit dem Stock gemacht? Und warum ist das Wetter auf einmal so stürmisch gewesen? <<

>>Weist du Hannah, auch ein Gott hat Gefühle und kann traurig sein. Immer wenn ich auf einen Menschen treffe, der überhaupt nichts gelernt hat und dem seine nächsten Mitgeschöpfe derart einerlei sind, dann erfüllt es mich mit großem Zorn. Ich muss mir dann auf diese Weise Luft machen <<

>>Und dann wird das Wetter schlecht? <<

>>Nein liebe Hannah, es ist nur so, dass das Wetter und diese Welt schon zuviel Unheil gesehen haben. Genau wie ich, empfindet auch die Erde diesen Schmerz. Es ist so, dass die Erde den Menschen zum Verweilen gegeben wurde. Die Menschen sollen die Erde wie ein kostbares Gut betrachten. Wenn sie ihr Zuhause zerstören, dann wird kein weiterer Gott kommen der ihnen eine neue Welt gibt. Wenn die Menschen böse Dinge tun, wie zum Beispiel Kriege zu führen oder Mitgeschöpfe zu Quälen, dann trauert die Erde und mit ihr die Götter. <<

>>Ich glaube, das verstehe ich, aber was hast du mit dem kleinen Stock gemacht? <<

>>Ich habe Heilrunen auf ihm geritzt. Runen sind sehr starke Zeichen aus der Zeit als ich noch jung war. Diese Zeichen haben bis zum heutigen Tage nichts von Ihrer Macht eingebüßt. <<

>>Und warum hast du die Zeichen benutzt? <<

>>Ich habe sie den toten Raben geschickt, damit sie nicht länger leiden müssen und nun ihre Ruhe haben <<

>>Können die Raben denn ihre Ruhe haben? sie sind doch tot oder nicht? <<

>>Ja, äußerlich sind sie das wohl, aber alles Leben auf dieser Welt ist von großer Kraft erfüllt. Ich bin davon überzeugt, dass diese Kraft mit dem verschwinden eines Lebens nicht endgültig enden kann solange es jemanden gibt der an dieses Leben denkt. Oder was meinst du? <<

>>Aber dann ist meine Oma ja auch noch irgendwo, dann müssen wir aber schnell kleine Stöcke schnitzen! << warf Hannah aufgebracht ein.

>>Nein << sagte Odin und lächelte Hannah liebevoll an.

>>Ich bin davon überzeugt, dass du deine Oma sehr, sehr lieb gehabt hast. Deswegen müssen wir ihr auch keine Heilrunen senden. Allein die Tatsache, dass du deine Oma so lieb hattest und wahrscheinlich noch oft an sie denkst, stärkt die Energie ganz besonders. <<

Nach dem Gespräch mit Odin fühlte sich Hannah bereits sehr viel besser. Die Vorstellung, dass ihr bester Freund Odin den Raben Heilrunen geschickt hatte, machte sie sehr froh. Hannah suchte den Augenkontakt zu Hugin, der von einem erhöhten Ast auf das Foto zu blicken schien.

>>Du musst dir keine Sorgen machen, Odin hat deine Freunde wieder gesund gemacht. <<

Sicher hätte Odin sie hier verbessern können, aber hätte das etwas geändert? Odin entschied sich dafür, Hannah in dem Glauben zu lassen. Hannah wirkte nicht mehr traurig und so bewirkten die Heilrunen an diesem Tag einen weiteren Zauber.

Der Abschied der nun folgte war nicht so fröhlich, wie bei den bisherigen Treffen. Jeder einzelne schien seinen Gedanken gefangen, als Hannah fragte:

>>Odin? Erzählst du mir morgen von den Runen? <<

>>Ja Hannah, wenn du möchtest! << zum Abschied legte Odin dem kleinen Mädchen die Hand auf die Schulter und sah ihr noch eine Weile hinterher, wie sie mit Hugin in Richtung des Hauses verschwand.

>>Munin, ist die Zeit und mit ihr die Menschheit schon so weit von der Natur entfernt, dass sie einfach keine Notiz mehr an dem Schicksal ihrer Mitgeschöpfe nehmen. Haben sie denn nicht früher in Sippen und Familienverbänden gelebt und sich gegenseitig geholfen, gepflegt, gewärmt und Probleme gemeinsam gelöst? Was wäre wohl passiert, wenn ein junger Mensch einen alten Menschen niedergeschlagen hätte? Nur so aus Habgier! << fragte Odin und sah dabei in die Vergangenheit.

>>Das vermag ich mir nicht vorzustellen Allvater, so ein Mensch wäre ausgestoßen worden aus der Sippe. Er hätte sein Anrecht auf einen Platz in der Gesellschaft verwirkt. Aber leider zählen diese Werte heute vielfach nicht mehr. Es existiert kaum noch Achtung vor dem Alter, es wird vielmehr als Belastung und Hindernis angesehen. Leider hört in dieser Hochtechnisierten Zeit kaum noch jemand auf das Wissen der Alten. Allerdings empfinde ich ebenso wie du, die Gleichgültigkeit mit der sich die Menschen ignorieren, erschreckend. << Der Rabe wirkte nach diesen Worten ebenso abwesend wie sein Herr.

>>Dann, mein lieber Freund wird es Zeit für einen Neuanfang. Die Menschen müssen sich wieder auf ihre eigene Magie besinnen, sich an den Geheimnissen dieses Planeten erfreuen und ihn wieder achten. <<

>>Ich stimme dir zu Herr, aber wie willst du das schaffen? <<

>>Nicht ich, Hannah wird das schaffen. Hannah und die anderen Kinder die noch an Wunder glauben und vielleicht gibt es auch den einen oder anderen Erwachsenen der die Kinder dabei unterstützen wird. Die Menschen die sich nicht schämen an Wunder zu glauben und für diesen Glauben einstehen. <<

kaum hatte er das gesagt, da fasste er seinen Stab und der Ring Draupnir begann geheimnisvoll zu schimmern. Munin wusste was das zu bedeuten hatte schließlich kannte er seinen Herrn lang genug.

Als Hannah zuhause ankam, saß ihre Mutter noch am Frühstückstisch und überlegte angestrengt, wie sie Hannah die Galgen erklären sollte. So staunte Hannahs Mama auch nicht schlecht, als ihre Tochter glücklich strahlend zur Tür hereinkam, auf ihre Mutter zulief, sie in die Arme nahm und sagte:

>>Du musst dir keine Sorgen machen, Odin hat alles wieder gut gemacht und die Raben können jetzt schön schlafen. << einigermaßen verwirrt fragte Hannahs Mutter

>>Und wie hat Odin das gemacht? <<

>>Na mit den Runen natürlich, damit kann man alles wieder gut machen! << Hannah wirkte sehr überzeugt und gleichzeitig irgendwie erwachsen als sie ihre Mutter belehrte.

>>Na da bin ich aber froh. << sagte Mama und drückte Hannah ganz fest an sich. Sie war wirklich froh, dass es offenbar jemanden geben musste der ihr diese schwierige Aufgabe abgenommen hatte. Für den Moment war ihr auch völlig egal ob es Odin oder Hannahs Teddy war, für sie war nur die Tatsache wichtig, dass es ihrer Tochter wieder gut ging. Aber woher wusste Hannah etwas über Runen?

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